Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit -

Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit


Über das Buch

Mai Thi Nguyen-Kim untersucht brennende Streitfragen unserer Gesellschaft, denn wissenschaftliche Erkenntnisse liegen allem zugrunde: von Lohngerechtigkeit über den Klimawandel bis zur Impfpflicht. Mit Fakten kontert sie Halbwahrheiten, Fakes und Verschwörungsmythen – und zeigt, wo wir uns mangels Beweisen noch zurecht munter streiten dürfen.

Jury­begründung

Forscher haben herausgefunden, die Studie hat ergeben, die Wissenschaft hat festgestellt. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie werden Ergebnisse zitiert, verglichen und auch strapaziert, ja sogar verdammt. Deswegen ist es wichtig zu verstehen, wie Wissenschaft überhaupt funktioniert. Was sind valide Daten? Wo fängt Interpretation an? Die Wissenschaftsjournalistin Mai-Thi Nguyen-Kim erklärt das so unterhaltsam, fundiert und unaufgeregt wie in ihren YouTube Videos. Machen Videospiele Jugendliche wirklich aggressiver? Sollte man Drogen legalisieren? Können Globuli überhaupt wirken? Am Ende ist man schlauer, versteht besser, wie Wissenschaft funktioniert und traut sich, in Debatten Position zu beziehen.

Mai Thi Nguyen-Kim

Dr. Mai Thi Nguyen-Kim ist promovierte Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin. Sie moderiert im WDR die Wissenssendung Quarks und produziert den mehrfach ausgezeichneten YouTube-Kanal maiLab, u. a. mit dem Grimme Online Award 2018. Im selben Jahr erhielt sie den Georg-von-Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus, 2019 folgte der Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis, 2020 die Goldene Kamera und das Bundesverdienstkreuz.

Lese­probe


Vorwort

»Vielleicht macht sie ja später mal so etwas wie Ranga Yogesh­war«, sagte mein Mann zu meinem besorgten Vater, um ihn zu trösten. Es war Anfang 2017, ich hatte gerade ein attraktives Jobangebot als Laborleiterin bei BASF abgelehnt, weil mir Bauch und Kopf in ungewohnt klarer Allianz sagten, dass ich eine Karriere in der Wissenschaftskommunikation versuchen musste. Die zunehmend verschwimmende Grenze zwischen Fakten und Meinungen, die Informations- und Desinformationsüberflutung in sozialen Medien und die scheinbar unerschütterliche Realitätsfeindlichkeit mancher Menschen, die die Erde für flach oder Viren für nicht existent erklärten (ja, das gab es auch schon vor Corona), waren für mich tatenlos kaum auszuhalten. Ich musste etwas tun, mitmischen, mitreden – ich brauchte wenigstens das Gefühl, aktiv etwas für Wissenschaftlichkeit und Wahrhaftigkeit zu tun, und sei es auch nur ein ­kleines bisschen. Meinem Vater leuchtete das irgendwie ein, er konnte nur nicht ganz begreifen, wie »über Wissenschaft ­reden« ein echter Beruf sein sollte. »Ranga Yogeshwar? Ja, das wäre natürlich toll«, antwortete er mit einem müden Lächeln, »aber ihr wisst doch selbst, wie unwahrscheinlich das ist.«

Ja, wussten wir. Mehr noch – wenn man mir damals in einer Glaskugel das Jahr 2020 gezeigt hätte, hätte ich wahrscheinlich kalte Füße bekommen. Damals beschwerte ich mich noch bei jeder Gelegenheit darüber, wieso in den Polittalkshows und in Nachrichtensendungen Stimmen aus der Wissenschaft so skandalös unterrepräsentiert waren. 2020 konnte sich keine deutsche Talkshow mehr ohne wissenschaftliche Experten blicken lassen. Die Frage »Wer ist dein Lieblingsvirologe?« gehörte nun zum Small-Talk-Repertoire. Und als sich die BILD mit Christian Drosten anlegte, war das irgendwie auch nur ein Zeichen dafür, wie einflussreich wissenschaftliche Stimmen plötzlich geworden waren. Als Wissenschaftsjournalistin schwirrte mir da manchmal der Kopf. An einem Tag wollte Attila Hildmann mich zu einer Anzeige provozieren, am nächsten kam eine subtil drohende Mail von einem namenhaften Virologen mit Anwalt im CC. Noch bin ich mir nicht sicher, ob die Corona-Pandemie die bisher beste oder die bisher schwierigste Zeit für die öffentliche Wahrnehmung von Wissenschaft ist. Nur eine Sache ist mir klarer als je zuvor: Dass wir uns immer mehr von einem gemeinsamen Verständnis von Wirklichkeit entfernen, das müssen wir dringend ändern.

Dass Tatsachen, Meinungen, Fantasien und Ängste zu einer großen Matschepampe vermischt werden, ist nicht nur schlecht für die Wissenschaft, sondern auch für unsere Debattenkultur. Als Kind hatte ich einen kleinen Metallfrosch, den man hüpfen lassen konnte, indem man ihn mit einer Schraube aufzog. Doch die Schraube klemmte, sodass der Frosch erst nach einem leichten Anstupser lossprang. Einer meiner Lieblingsstreiche war es, den Frosch bis zum Anschlag aufzuziehen, ihn vorsichtig hinzustellen und dann meinen großen Bruder zu bitten, mir den Frosch aufzuziehen. Sobald mein Bruder den Frosch berührte, sprang ihm dieser plötzlich entgegen oder ins Gesicht, und mein lieber Bruder tat jedes Mal so, als würde er sich zu Tode erschrecken, während ich mich lachend und schreiend auf dem Boden wälzte.

Heute kommt es mir so vor, als seien wir überall von aufgezogenen Fröschen umgeben, die beim leichtesten Anstupsen explodieren. Das Internet hat nicht nur dazu geführt, dass jede und jeder eine öffentliche Stimme haben kann, sondern auch dazu, dass Banalitäten über Empörungsspiralen zu Shitstorms aufgeblasen werden, angefeuert von Trollen, die sich über solche Eskalationen freuen wie damals die kleine Mai, wenn dem Bruder der Frosch ins Gesicht sprang. Die aktuelle Debattenkultur scheint hoch strapaziert, es dominiert Schwarz-Weiß, viele Fronten sind verhärtet. Differenzierte Diskussionen sind oft kaum möglich, geschweige denn ein Konsens.

Doch zu einem Konsens zu gelangen, ist leichter gesagt als getan. Selbst Greta Thunbergs Spruch »Unite behind the Science« wirkt nach Corona irgendwie komplizierter als vorher. Für Greta war es das Mindeste, das man verlangen kann – sich hinter den Fakten, hinter der Wissenschaft zu versammeln. Aber gibt es die Wissenschaft überhaupt? Und auf was können wir uns überhaupt einigen?

In diesem Buch will ich mich auf die Suche begeben, auf die Suche nach der kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit. Ich will nicht nur herausfinden, worauf wir uns tatsächlich einigen können, sondern auch – und das ist eigentlich viel spannender –, wo die Fakten aufhören, wo Zahlen und wissenschaftliche Erkenntnisse noch fehlen und wir uns also völlig berechtigt gegenseitig persönliche Meinungen an den Kopf werfen dürfen. Nur wenn man bei einem Streit auf dem Fundament einer gemeinsamen Wirklichkeit steht, funktioniert Streit, funktioniert Debatte, ohne dass wir uns wie aufgezogene Frösche ins Gesicht springen müssen. Vielleicht macht Streiten so auch wieder Spaß.

Also – viel Spaß!


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