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Eine Graphic Novel als Sachbuch des Jahres?! Kurz-Interview mit Philip Kolek, Reprodukt Verlag


Eine Graphic Novel als Sachbuch des Jahres?! Kurz-Interview mit Philip Kolek, Reprodukt Verlag

Welche Chancen sehen Sie für die Vermittlung komplexerer Themen in der Graphic Novel? Entstehen besondere Herausforderungen beim Erzählen eines Sachthemas in visueller Form?

Der Comic ist eine eigenständiges Medium mit einer langen kulturellen Tradition und zig narrativen Konventionen, mit denen man spielen, sie erweitern oder brechen kann. Es ist aber natürlich auch ein Mischmedium, das ebenso mit dem Roman/Sachbuch wie mit Bildenden Kunst/Grafik verwandt ist bzw. durch sein Zusammenspiel von Text und Bild diese Kunstformen verbindet. Und so kann der Comic je nach Machart und Stoff die narrativen und im Sachbuchbereich wissenvermittelnden Stärken von reinen Text- und Bild-Medien ausspielen und kombinieren. Ein Sachcomic braucht den Textfluss nicht mit Grafiken, Diagrammen, Beispielbildern, etc. zu unterbrechen – der visuelle Vermittlungsaspekt ist in den Comicbildern schon enthalten. In dem Zusammenspiel von Text und Bild liegt für viele Sachcomicautor*innen genau der Reiz: Die Bildebene kann den Text akzentuieren, sie kann ihn aber auch konterkarieren und Brüche herausarbeiten. Zeitzeug*innen-Comics wie Barbara Yelins EMMIE ARBEL nutzen die Bildebene, um auf Leerstellen und Widersprüche in den Erzählungen ihrer Interviewpartner*innen hinzuweisen. Bilder finden einen emotionalen Zugang zu ihrem Thema, weil sie nicht vorgeben authentisch und „real“ zu sein, sondern durch die Zeichnungen der Autor*innen gefiltert sind. Dieser Ansatz wird in Zeiten von K.I. und Deep Fakes immer relevanter und spannender, weil Fotos und Videobilder irgendwann den Authentizitätsanspruch verlieren werden. 

Gibt es Themen, die sich Ihrer Meinung nach besser oder schlechter als Graphic Novel eignen?

Ich mag besonders die Comics, in denen sich die Autor*innen selbst zum Gegenstand ihrer Erzählungen und Recherchen machen. Die schwedische Sachcomicautorin Liv Strömquist zeichnet sich in den meisten ihrer Graphic Novels selbst als eine Art Moderatorin, die durch die Fakten, Charts und Anekdoten ihrer jeweiligen Comicabhandlungen führt. Ulli Lust setzt in ihrem prämierten DIE FRAU ALS MENSCH ihr Thema auch immer wieder in Bezug zu sich selbst und ihrem Leben. Das macht die Lektüre nicht nur kurzweiliger, sondern verdeutlicht auch, dass ihr Gegenstand – Geschichtsforschung aus feministischer Perspektive – nicht bloß abstraktes Wissen ist, sondern auch direkten Bezug zu unserem Leben hat. Generell denke ich, dass jedes Thema „comic-geeignet“ ist – ich habe dieses Jahr z.B. einen Comic über Quantenphysik (LOOPS, Jaja Verlag) gelesen, der komplexe Theorien wunderbar und vor allem nachvollziehbar durch Illustrationen veranschaulicht hat.

Welche Rolle spielen Sachbücher in ihrem Verlag? Hat der Gewinn des Deutschen Sachbuchpreises für Ulli Lust im Verlag etwas ausgelöst?

Reprodukt versteht sich als Autor*innenverlag, der sich nicht primär an einzelnen literarischen Gattungen orientiert, sondern nach starken künstlerischen Stimmen und Talenten sucht. Viele unsere Autor*innen begleiten uns schon seit Jahren teilweise Jahrzehnten und wir folgen ihren künstlerischen Entwicklungen. Im Fall von Ulli Lust wollten wir schon seit ewig mit ihr zusammenarbeiten und als sie uns DIE FRAU ALS MENSCH herantrug, hat keiner im Verlag lange überlegen müssen. Dass es ein Sachcomic war, war da fast zweitrangig … :-)  Wir haben auch etliche andere Sachcomics im Programm, aber fast immer waren bei der Programmauswahl die Erzählstimme, das zeichnerische Talent und auch das Gefühl, das der/die Autor*in für ihr Thema brennt, für unsere Entscheidungsfindung wichtiger als das eigentliche Thema des Buchs …

Hat die Auszeichnung in Ihren Augen etwas in der Wahrnehmung von Graphic Novels als Format generell verändert? 

Wir beobachten seit Jahren eine gestiegene Wahrnehmung des Comics, sei es in der Kulturberichterstattung, in der Pädagogik und Bildungsbereich und auch seitens Kulturpolitik. Bei Literaturpreisen sticht diese Entwicklung natürlich besonders ins Auge. Anke Feuchtenbergers GENOSSIN KUCKUCK war z. B. der erste Comic, der in der Belletristik-Kategorie für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Und DIE FRAU ALS MENSCH war die erste Nominierung eines Comics beim Deutschen Sachbuchpreis. Dass das Buch auch noch gewinnt – darauf hätte ich damals kein Geld gewettet … Im Buchhandel und in der Kulturbranche helfen solche Auszeichnungen und auch die Nominierungen enorm. Schließlich sind wir „gekommen, um zu bleiben“, wie Wir Sind Helden einst sangen. Wir wollen nicht, dass der Comic als kurzzeitiges Trendthema wahrgenommen wird, das peakt und dann wieder aus der Wahrnehmung verschwindet, sondern als ein ebenbürtige literarisches Medium, das zum Kulturbetrieb dazugehört. In Deutschland hat der Comic im Vergleich zu Frankreich, den USA und anderen Ländern kulturell noch einiges aufzuholen, also bleibt noch viel Luft nach oben. 


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Hauptförderer

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