Das Fluchtparadox -

Das Fluchtparadox

Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen


Über das Buch

Flucht ist paradox: Man sucht Sicherheit, muss aber sein Leben aufs Spiel setzen. Man muss Recht brechen, um zu seinem Recht auf Asyl zu kommen. Nur um sich im Aufnahmeland mit widersprüchlichen Anforderungen und unerfüllbaren Zuschreibungen auseinandersetzen zu müssen. Judith Kohlenberger zeigt, wie wir zu einer menschlichen Asyl- und Integrationspolitik kommen, wenn wir der Stärke der Institutionen, des Rechtsstaats und der Zivilgesellschaft vertrauen.

Jury­begründung

Die europäische Asyl- und Migrationspolitik steckt voller Widersprüche. Flüchtende müssen sich in Lebensgefahr begeben, um Schutz zu finden. Beim Grenzübertritt werden sie gezwungen, Recht zu brechen, um ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen zu können. Sie sollen schutzbedürftig und gleichzeitig leistungsbereit sein, sich in ihre Aufnahmeländer integrieren, aber ewig Bittstellende bleiben.
Judith Kohlenberger zeichnet sehr differenziert nach, wie sich unser Umgang mit Flucht und Vertreibung rechtlich, gesellschaftlich und politisch im 20. und 21. Jahrhundert entwickelt hat und entlarvt die Paradoxien der aktuellen Diskurse. Wie eine humane Asyl- und Integrationspolitik aussehen könnte und wie Europa seiner Verantwortung hier gerecht werden kann, darauf gibt sie kluge und überzeugende Antworten.

Judith Kohlenberger

Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien, wo sie zu Fluchtmigration, Integration und Zugehörigkeit forscht und lehrt. Im Herbst 2015 war sie an einer der europaweit ersten Studien zur großen Fluchtbewegung beteiligt. Ihre Arbeit wurde in internationalen Journals veröffentlicht und mit dem Kurt-Rothschild-Preis 2019 sowie dem Förderpreis der Stadt Wien ausgezeichnet. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit ist sie im Integrationsrat der Stadt Wien tätig und engagiert sich als Gründungsmitglied von COURAGE – Mut zur Menschlichkeit für legale Fluchtwege.

Sachbuch-Slam 2023

Aus dem Buch

Vorwort: Alle oder niemand

„If you’re not outraged, you’re not paying attention“, besagt ein geflügeltes Wort aus den Vereinigten Staaten, das von Klimaaktivist*innen, Feminist*innen und Kongressabgeordneten gleichermaßen als Losung vor sich hergetragen wird. Dieses Buch ist dazu gedacht, unsere Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, welches genau diese outrage (dt. Wut) schon längst verdient hätte, sie aber trotzdem viel zu selten hervorruft: Das anhaltende, allgegenwärtige und mittlerweile bereits systemimmanente Untergraben von Grund- und Freiheitsrechten Schutzsuchender an unseren Außengrenzen und ihr konsequentes, unwidersprochenes Fremdermachen innerhalb dieser.

Die Aufmerksamkeit darauf und in weiterer Folge die daraus resultierende outrage fehlt wohl auch deshalb, weil „uns“ (sprich: weiße Europäer*innen) das vermeintlich nichts angeht, sind wir uns doch unserer Menschen- und Bürger*innenrechte innerhalb der Europäischen Union gewiss. In regelmäßigen Abständen versichern uns freie Wahlen, dass wir der Souverän sind und die Kontrolle über unsere Regierenden haben. Unabhängige Gerichte bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stehen für die Einhaltung der Menschenrechtskonvention und ahnden ihre Verletzung ohne Ausnahme. Darüber hinaus sorgen ein engmaschiges Sozialsystem und institutionelle Solidarität für die Sicherstellung unserer Grundbedürfnisse, vom Wohnen über die Nahrung bis hin zu Gesundheits- und Altersvorsorge. Die Demokratie ist für uns eine gut geölte, reibungslos funktionierende Maschine, die zwar manchmal Ermüdungserscheinungen zeigt (die österreichische Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft kann ein Lied davon singen), aber im Großen und Ganzen das aufrechterhält, was uns versprochen wurde: Dass wir in Würde und Gleichheit und unsere Grundrechte unveräußerlich und unantastbar sind. Mag die Unzufriedenheit mit den und die Empörung über die Regierenden noch so groß sein, insgeheim lässt uns eine essenzielle Überzeugung dann doch Nacht für Nacht gut schlafen: Dass uns Europäer*innen das, was in Moria, in Belarus, in Bosnien, in Ceuta oder im Mittelmeer geschieht, nämlich eine wissentlich und willentlich herbeigeführte Rechtlosigkeit, nicht passieren kann.

Diese Grundannahme möchte ich mit diesem Buch nachhaltig erschüttern. Grundrechte kann man nicht einfach für die einen abstellen, während sie für die anderen weiter gelten. Sie sind, wie es die amerikanische Schriftstellerin und Ikone der Bürgerrechtsbewegung Maya Angelou so treffend formulierte, wie Luft: Entweder alle haben sie, oder niemand hat sie. Schutzsuchende, Marginalisierte und Minderheiten erfüllen in westlichen Demokratien deshalb die Funktion eines Kanarienvogels in der Kohlemine, der Bergleute vor einem drohenden Sauerstoffverlust warnte: Bleibt ihnen die Luft weg, weil man ihnen Grund- und Menschenrechte verwehrt, so wird es auch für uns bald brenzlig werden.1 Man muss weder tief in die Geschichte zurückgehen noch geografisch weite Distanzen überbrücken, um die Beschneidung der Rechte von Marginalisierten und Ausgegrenzten, den poor and huddled masses yearning to be free,2 als Einfallstor für illegitime Tendenzen und Verletzungen der Grund- und Freiheitsrechte zu erkennen. Nicht von ungefähr werden die Rechte von Asylsuchenden in Ländern wie Polen und Ungarn mit Füßen getreten, also genau dort, wo die Rechtsstaatlichkeit generell oft nur mehr wie eine vage Empfehlung statt wie ein grundlegendes demokratisches Prinzip wirkt. Symptomatisch dafür mag der Umstand stehen, dass ausgerechnet der Begriff „Pushback“, also das völkerrechtswidrige Zurückweisen von Schutzsuchenden an der Grenze, häufig durch Einsatz von Gewalt, zum deutschen Unwort des Jahres 2021 gewählt wurde3 – wohlgemerkt in einem Jahr, das von Inzidenzen, Impfdurchbrüchen und Omikron geprägt war.

Nicht erst seit dem Fluchtherbst 2015 wurde der Umgang mit Schutzsuchenden zum Lackmustest der europäischen Demokratie – den wir, so viel sei den folgenden Seiten vorweggenommen, oft mehr schlecht als recht bestehen. Manchmal fallen wir einfach durch. Dann wieder scheinen wir ihn bravourös zu meistern, etwa im Frühling 2022, als Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in der EU Schutz suchten, und diesen rasch, unbürokratisch und in seltener europäischer Einigkeit erhielten.

Doch halt!, mag man da rufen, handelt es sich bei ankommenden Menschen aus der Ukraine doch nicht um Flüchtlinge, zumindest nicht um „klassische“, wie etwa der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer und nach ihm zahlreiche weitere Politiker*innen klarstellten, sondern um „Vertriebene“. Und diese finden sich sogar, wie der aufmerksamen Leserin nicht entgangen sein wird, im Untertitel dieses Buchs wieder. Das hat inhaltliche wie strategische Gründe, allen voran aber jene, die aus der eingangs erwähnten outrage geboren sind: „Vertriebene“ sind nämlich alle, die ihr Land verlassen müssen, ohne es zu wollen – sei es aufgrund persönlicher Verfolgung, wegen (Bürger)kriegen oder repressiven Regimes, oder bedingt durch Naturkatastrophen und die Klimakrise, die ihre Heimat unbewohnbar machen.


1 Ich bedanke mich für dieses eindrückliche Bild bei meinem Kollegen J. Olaf Kleist vom Deutschen Institut für Integrations- und
Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin, der konsequent und unbeirrbar für Flüchtlingsschutz und -rechte in seinem Heimatland
Deutschland eintritt. Viele Gedanken und Überlegungen in diesem Buch gehen auch auf seine unermüdliche Arbeit zurück.
2 Aus dem Sonett „The New Colossus“ (1883) von Emma Lazarus, das sich im Sockel der Freiheitsstatue befindet und symbolisch wurde für das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten als sicherer Hafen für (religiös) Verfolgte und Vertriebene (solange sie aus Westund Mitteleuropa kamen).
3 Dadurch solle Kritik an dem Euphemismus zum Ausdruck gebracht werden, beschreibe der Begriff doch einen menschenfeindlichen Prozess, durch den Flüchtende daran gehindert werden, ihr Recht auf Asylantragstellung wahrzunehmen, so die Jury.


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