Der Fluch des Imperiums -

Der Fluch des Imperiums

Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte


Über das Buch

Vor dem 24. Februar 2022 erschien Putins Regime vielen vor allem am eigenen Machterhalt und der persönlichen Bereicherung interessiert zu sein. Doch der neuerliche Angriff auf die Ukraine, die Brutalität der Kriegsführung und die Hasspropaganda lassen sich damit nicht wirklich erklären. Martin Schulze Wessel stellt den Krieg in den Kontext der russischen Expansion nach Osteuropa und zeigt, wie Russlands imperiale Vergangenheit in der Gegenwart fortwirkt.

Jury­begründung

Die Prinzipien von Freiheit, Demokratie und nationaler Selbstbestimmung werden heute in der Ukraine verteidigt? Das mag pathetisch klingen, aber Martin Schulze Wessel begründet es meisterhaft mit einer Geschichte des Imperiums Russland. Der Osteuropa-Historiker entfaltet die Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine seit Peter dem Großen und beschreibt kenntnisreich, wie die imperiale Politik Moskaus gegenüber seinen Nachbarn mit einer anti-westlichen Haltung einherging, die bis heute fortdauert. Es ist eine beklemmende Geschichtsstunde, die die Augen öffnet für das Gedankengut Putins und seines Regimes, für die Verachtung einer westlichen, diversen Zivilgesellschaft.

Martin Schulze Wessel

Martin Schulze Wessel ist Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Von 2012 bis 2016 war er Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands.

Sachbuch-Slam 2023

Aus dem Buch

Was kann das Studium von Russlands imperialer Geschichte und Ideologie zur Erklärung des russischen Angriffs auf die Ukraine beitragen? Der entscheidende Bezugsrahmen des Kriegs, so das Argument dieses Buchs, sind russische Kulturmuster, die auf der Grundlage von mächtepolitischen Traditionen und außenpolitischen Erfahrungen entstanden sind. Oft wird der Zusammenhang von Imperium und imperialer Ideologie vereinfachend so dargestellt, als bilde das Imperium mit seinen Institutionen und Ressourcen gewissermaßen die Hardware und die imperialen Ideologien seien eine fertig bereitstehende Software. Die Idee von Moskau als „Drittem Rom“ oder die Idee von der kulturellen Totalität des Russischen, der „Russkij mir“, sind viel genannte Leitvorstellungen, die unmittelbar zur Erklärung des russischen Angriffs herangezogen werden. Doch haben diese Ideen nicht die lange Dauer, die ihnen zugeschrieben wird. Die These von Moskau als „Drittem Rom“ ist im 16. Jahrhundert in einem Brief an den Zaren formuliert worden, aber eine größere Bekanntheit erlangte sie erst im 19. Jahrhundert. Ihre Bedeutung wird überschätzt. Viel wirksamer sind Ideen, die aus der Beziehungsgeschichte des Imperiums selbst entstanden und sich durch Wiederholung tief in das kulturelle Gedächtnis eingeprägt haben. Solche Vorstellungen sind weniger voraussetzungsvoll als z.B. die These vom „Dritten Rom“. Es geht dabei um die tief verwurzelte Idee der politischen und kulturellen Marginalität des „Zwischenraums“ zwischen Russland und Deutschland, um die Vorstellung der Lenkung der Ukraine und Polens durch westliche Mächte und um die Annahme einer europäischen Russophobie, die seit den 1830er Jahren im russischen Gedächtnis angelegt und immer wieder abgerufen worden ist. Solche Projektionen entstanden in der russischen imperialen Geschichte, haben aber aufgrund ihrer emotionalen Aufladung eine eigene Logik, die auf die Außenpolitik zurückwirkt. Putin mit seinem Anspruch, rational – oder mit seiner Lieblingsvokabel gesagt: „professionell“ – Außenpolitik zu betreiben, einerseits und seiner gravierenden Fehleinschätzung der militärischen und internationalen Lage andererseits verkörpert die Schizophrenie einer Mächtepolitik, die sich von Phantasien imperialer Dominanz leiten lässt und im Krieg auf die begrenzten Möglichkeiten der Machtausübung zurückgeworfen wird. Die Führung der „Spezialoperation“ als Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung ist die Folge.

Die russische Invasion vom 24. Februar 2022 hat unser Zeitempfinden verändert, die Karriere des Begriffs „Zeitenwende“ ist dafür symptomatisch. Mit Blick auf Russland begegnen wir jedoch nicht einer Zäsur, sondern einer langen imperialen Kontinuität, wenn auch in der radikalisierten Form des Kriegs. Eine Zeitenwende in Russland könnte nur eine Niederlage und eine fundamentale Neubesinnung Russlands als postimperiale Nation herbeiführen. Eine Zäsur ist aber schon jetzt im Westen und speziell in Deutschland festzustellen, er betrifft unsere Wahrnehmung Russlands und damit verbunden, eine Selbstverständigung Deutschlands über eine imperiale Aggression, die viele nicht für möglich gehalten haben. Wie tief ist der Bruch? Wirtschaftssanktionen gegen Russland und Militärhilfe für die Ukraine markieren einen Neuanfang. Wie weit eingeschliffene Denkmuster überwunden werden, ist ein Jahr nach dem Kriegsbeginn noch nicht abzusehen. Deutschland hat seine eigene imperiale Geschichte hinter sich gelassen, aber in der engen Beziehung zu Russland bzw. der Sowjetunion eine imperiale Optik St. Petersburgs bzw. Moskaus übernommen und die von Russland imperial Beherrschten als Akteure zweiter Ordnung gesehen. Auch in der Erinnerung an den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion spiegelte sich lange dieses Gefälle. Und diese Übernahme des russischen Blicks wirkt teilweise immer noch fort.5 In keiner Talkshow zum Kriegsgeschehen fehlt es an Warnungen, welche Folgen es hätte, wenn Russland den Krieg und Putin sein Gesicht verlöre. Viel zu selten versetzt man sich in die Rolle der Ukraine: Was würde ein Verzichtfrieden für sie bedeuten, welche Folgen hätte eine Erschütterung ihrer politischen Kultur für die gesamte Region?

Der Verlust Russlands als Partner und „Nachbarn“, mit dem man schon lange keine Grenze, aber gemeinsame Interessen und Sichtweisen teilte, ist noch nicht verarbeitet, und die Chancen, die in einer engen gleichberechtigen Partnerschaft mit der Ukraine liegen, sind noch nicht vollständig erkannt. Eine Zeitenwende zu proklamieren und eine Politik für die Zeit danach zu entwerfen, erfordert als ersten Schritt eine Vorstellung von der Epoche zu gewinnen, deren Ende gekommen ist. Das Anliegen dieses Buchs ist es, die „gewendete Zeit“ zu beschreiben: Wann sie angefangen hat, wie sie endete und welche Motive ihr eine so lange Dauer gegeben haben.


5 Sasse, Der Krieg gegen die Ukraine.


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