Ein Hof und elf Geschwister -

Ein Hof und elf Geschwister

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland

Verlag

C.H.Beck

Verlagswebsite

C.H.Beck


Über das Buch

Die bäuerliche Landwirtschaft mit Viehmärkten, Selbstversorgung und harter Knochenarbeit ist im Laufe der Sechzigerjahre in rasantem Tempo und doch ganz leise verschwunden. Ewald Frie erzählt am Beispiel seiner Familie von der großen Zäsur. Mit wenigen Strichen zeigt er, wie die Welt der Eltern unterging, die Geschwister anderen Lebensentwürfen folgten und der allgemeine gesellschaftliche Wandel das Land erfasste.

Jury­begründung

Jurybegründung Sachbuch des Jahres 2023

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben geschieht überall. Eine persönliche und überraschende Perspektive auf diesen Veränderungsprozess nimmt Ewald Frie ein: Am Beispiel seiner Familie aus dem Münsterland beschreibt er Spannungen, die sich zwischen Stadt und Land entwickelt haben und uns gegenwärtig intensiv beschäftigen. In seiner verblüffend einfachen und zugleich poetischen Sprache schafft Frie Zugang zu einer Welt im Wandel – immer empathisch, aber nie nostalgisch. Auf der Basis von Interviews mit seinen Geschwistern hat Ewald Frie ein tiefes und gleichzeitig zugängliches und unterhaltsames historisches Sachbuch verfasst. Diese Alltagsgeschichte geht von leicht zu übersehenden Details aus und entwickelt große Gedanken. Ein inspirierendes Beispiel für innovative Geschichtsschreibung.

Jurybegründung zur Nominierung

Eine Lebensform ist derart leise verschwunden, dass man sich im Rückblick nur wundern kann: Die bäuerliche Welt mit harter Feldarbeit, dem Melken von Kühen und der Kastration von Ferkeln, der Religiosität und der Selbstversorgung. Der 60-jährige Geschichtsprofessor Ewald Frie entstammt selbst einer Bauernfamilie. Er spricht in diesem Buch mit seinen Geschwistern über die gemeinsame Herkunft und Heimat und lässt liebevoll und unprätentiös eine Lebensweise wiederauferstehen, die vielen nicht mehr vertraut ist. Und er zieht dabei Bilanz: Was ist mit der Verstädterung und der Bildungsexpansion verlorengegangen? Was haben wir mit dem gesellschaftlichen Wandel gewonnen? Dass Frie auf einfache Fragen nicht immer einfache Antworten gibt, zählt zu den Stärken dieses unterhaltsamen wie erkenntnisreichen Buchs.

Ewald Frie

Ewald Frie ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen.

Sachbuch-Slam 2023

Aus dem Buch

Arbeiten

„Sommerferien – du kamst nach Hause, umziehen, arbeiten. So. Und es gab ja keinen Tag, wo du nichts machen musstest, und nachher waren Ferien zu Ende, wieder zum Internat.“ Arbeit, so Kaspar, war das Leben für die älteren Kinder, sofern sie nicht in der Schule waren oder, daran erinnern sich die anderen älteren Geschwister, Hausaufgaben machten. Das war die einzige Alternative zur Hof- und Hausarbeit, die akzeptiert wurde. Arbeit war immer. Die weit überdurchschnittliche Arbeitsbelastung von Kindern und Jugendlichen auf dem Land war in den 1950er-Jahren bekannt und wurde vom Jugendschutz vielstimmig beklagt. Für meine älteren Geschwister war sie eine natürliche Folge der Zugehörigkeit zur Familie und damit zum Hof. Nicht-arbeiten hätte bedeutet, die anderen im Stich zu lassen. Daher wichen alle der Arbeit manchmal und ein wenig aus, lehnten sie aber nicht grundsätzlich ab. Warum auch? Was wäre die Alternative gewesen?

Bei genauerem Hinsehen arbeiteten nicht alle in gleicher Weise. Arbeit unterschied sich nach Alter und sozialer Stellung, vor allem aber nach Geschlecht. Männer machten die Feldarbeit und kümmerten sich um das Rindvieh, die Pferde und später die Traktoren und Maschinen. Frauen machten den Haushalt, den Garten, versorgten Hühner und Schweine und molken die Kühe. Ob die Arbeit unterschiedlich wertgeschätzt wurde? „Jungs sind tausend Taler mehr wert“, habe Vater erläuternd zu ihr gesagt, wenn sie sich über die ungleiche Behandlung gegenüber ihren drei älteren Brüdern beschwert habe, sagt Mechthild. Niemand sonst erwähnt diesen Satz. In Mechthilds Interview ist er ein zentrales Motiv. Sie habe ihrem Vater zeigen wollen, dass auch Mädchen gute Arbeit leisten könnten, und sich daher zur Feldarbeit, zum Melken und zum Säubern der Melkmaschine angeboten. Hat sie Vater überzeugt, so dass dieser Satz später nicht mehr fiel? War Mechthild die Einzige unter den Mädchen, die Feld- und Stallarbeit höher einschätzte als Hausarbeit, und sich freiwillig unter die Fuchtel von Vater begab?

Die Arbeitsteilung veränderte sich: Als die Melkmaschine kam, ging die Aufgabe des Melkens an die Männer über. Als der Traktor kam, blieben die Kinder länger auf dem Feld, weil Aufgaben wie das Ringeln oder Walzen nun kinderleicht geworden waren. „Den Schlepper selbständig zu fahren ist für Jungen, aber auch für viele Mädchen eine Selbstverständlichkeit, sobald ihre Körpergröße und Stärke das Niedertreten des Kupplungspedals ermöglicht“,31 stellte der Agrarsoziologe Julius Otto Müller 1964 fest. Auf unserem Hof wurden Holzklötze und Latten als Hilfsmittel zurechtgesägt, damit auch noch Jüngere Bremse und Kupplung bedienen konnten. „Die moderne Technik hat die Produktivität des Kindes gesteigert und seine Einsatzmöglichkeiten erweitert“,32 heißt es in einer anderen Darstellung aus den 1960er-Jahren.

Es gab Hierarchien: Mutter war fast immer im Haus oder bei den Hühnern. Die bei ihr angestellten Frauen, die „Stützen“ hießen, und später ihre Töchter übernahmen das Melken der Kühe und das Füttern der Schweine. Es gab Ausnahmen: In der Ernte wurden alle Hände gebraucht, dann waren auch die Frauen draußen. Die Hackarbeit im Rübenfeld übernahmen Frauen und Kinder, obwohl es Feldarbeit war. Die Begründung findet sich ebenfalls bei Julius Otto Müller: „Der Mann zeigt bei den gemeinsamen Feldarbeiten in der Regel wenig Neigung zur Arbeit mit Handgeräten.“33 Auch bei uns führten die Frauen Harke und Hacke, die Männer arbeiteten mit Maschinen.

Ein Teil der Frauenarbeit war einträglich. Noch bis in die 1950er-Jahre kamen regelmäßig fahrende Händler vorbei, die Eier und Butter kauften, Produkte also, die im Arbeitsfeld der Frauen erzeugt wurden. Das Geld ging in eine Kasse, aus der die Frauen eigenständig Ausgaben für Haushalt und Kinder tätigen konnten. Zwischen Mitte der 1950er- und Ende der 1960er-Jahre verschwand diese Kasse. Zunächst ging die Milch mit der Melkmaschine in den Männerbereich über. Milch wurde bald komplett an die Molkerei abgeliefert, vom Eigenbedarf unseres Haushaltes abgesehen. Die Milchzentrifuge, in deren mechanischen Kettenantrieb Mechthild Ende der 1950er-Jahre fast hineingezogen worden wäre, weil sich ihr Haar darin verfangen hatte, wurde außer Betrieb gesetzt und auf dem Balken verstaut. Butterproduktion und Butterverkauf hatten ein Ende. An Kontroversen über das Ende der Milchvermarktung durch die Frauen des Hauses erinnern sich meine Geschwister nicht. Es gab sie durchaus. Molkereien entwickelten eigene Argumentationshilfen, um Frauen zu überzeugen. Sie wussten, dass viele Männer innerehelich unter Druck geraten waren. Bäuerinnen mochten den Anschluss der Höfe an die zentrale Milchsammlung nicht, weil er eine Einschränkung ihrer finanziellen Eigenständigkeit bedeutete.


31 Julius Otto Müller: Die Einstellung zur Landarbeit in bäuerlichen Familienbetrieben. Ein Beitrag zur ländlichen Sozialforschung, dargestellt nach Untersuchungen in vier Gebieten der Bundesrepublik, Bonn 1964, S. 108–109.
32 Ulrich Planck: Der bäuerliche Familienbetrieb zwischen Patriarchat und Partnerschaft, Stuttgart 1964, S. 59.
33 Julius Otto Müller: Die Einstellung zur Landarbeit in bäuerlichen Familienbetrieben. Ein Beitrag zur ländlichen Sozialforschung, dargestellt nach Untersuchungen in vier Gebieten der Bundesrepublik, Bonn 1964, S. 103.


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