Radikaler Universalismus -

Radikaler Universalismus

Jenseits von Identität

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Propyläen


Über das Buch

Die Frage nach der Identität hält das gesamte politische Spektrum besetzt. Und der Universalismus? Geschrumpft auf eine leere Hülle. Omri Boehm sucht in seinem Buch einen Ausweg aus der festgefahrenen Debatte.

Jury­begründung

Die Idee universell gültiger Grundlagen menschlichen Zusammenlebens scheint aufgerieben: Aus verfeindeten Diskurslagern bezichtigt man einander, Partikularinteressen und ihre Identitätsentwürfe zu überhöhen. Omri Boehm durchkreuzt diese Debatten mit seiner Einladung, universalistische Grundkonzepte neu zu durchdenken. Sein Buch fordert; es schmiegt sich nicht an. Es führt uns zurück zu Figuren wie Hiob, Kant und Martin Luther King, verbindet biblische Geschichten und aktuelle Kontroversen. Es lädt uns ein, zu gegenwärtigen Debatten Distanz einzunehmen, indem wir uns fragen, was die Unterschiede zwischen Interessen und Empfinden, Mittel und Zwecken, oder auch Wert und Würde sind. Politische Philosophie trifft hier auf Gegenwart – mit der anregenden Zumutung, teilbare Grundprinzipien nicht nur als Anpassung und Konsens zu begreifen.

Omri Boehm

Omri Boehm, geboren 1979, ist Associate Professor für Philosophie und Chair of the Philosophy Department an der New School for Social Research in New York. Er ist israelischer und deutscher Staatsbürger, hat u. a. in München und Berlin geforscht. Sein Buch „Kant’s Critique of Spinoza“ erschien 2014 bei Oxford University Press. Er schreibt unter anderem über Israel, Politik und Philosophie in Haaretz, Die Zeit und The New York Times.

Sachbuch-Slam 2023

Aus dem Buch

Die liberale Demokratie steckt bereits seit Jahren in der Krise. Die einschlägigen intellektuellen Angriffe auf ihre geistigen und moralischen Grundlagen – Aufklärung, Universalismus, Vernunft – verfangen jenseits hochtrabender intellektueller Debatten und abgehobener Philosophie- Fachbereiche zunehmend auch in politischen Kreisen. Was in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Provokation aus Paris mit unüberhörbaren Anleihen aus dem Schwarzwald der zwanziger und dreißiger Jahre begann, beeinflusst heutzutage die Politik weit über die amerikanischen „Culture Studies“ der achtziger Jahre hinaus. Die Form des Postmodernismus, die derzeit in Gestalt der Critical Race Theory und der postkolonialen oder dekolonialen Theorie nach Europa reimportiert wird, nimmt die Träume eines Martin Luther King genauso wenig ernst wie den „Traum von dem Amerika“, in das Du Bois hineingeboren wurde. Solche Träume gelten Linken wie Rechten gleichermaßen als Illusionen, denn in einem Punkt immerhin sind sie sich einig: Das Problem mit dem universalistischen Projekt der Aufklärung besteht nicht darin, dass es gescheitert ist, sondern dass man es überhaupt versucht hat. Und so wetteifern beide politischen Lager darum, den Maßstab des abstrakten Universalismus durch eine konkrete Identität zu ersetzen: Wie die Rechte im Namen traditioneller Werte kämpft, so kämpft die Linke im Namen von Gender und Race. Der universelle Humanismus gilt keiner der beiden Seiten mehr als Grundlage, um ungerechte Gesetze und diskriminierende Machtstrukturen zu kritisieren und zu verändern. Er wird vielmehr als die Maske wahrgenommen, die es den Herrschenden ermöglicht, die Strukturen der Ausgrenzung und Ausbeutung aufrechtzuerhalten.

Autoren, die sich solidarisch mit schwarzen Afrikanerinnen, LGBTQ-Menschen, ethnischen Minderheiten und anderen diskriminierten Gruppen zeigen, weisen die Kritik an der „Identitätspolitik“ oft damit zurück, dass sie sie als eine Form von „weißer Verletzlichkeit“ oder heuchlerischer Übersensibilität der Privilegierten darstellen. Ein Kritiker möchte die zunehmende Rede von einer „illiberalen Linken“ gleich als „Mär“ abtun.5 Zwar könne man immer, so seine Argumentation, „ein paar saftige Anekdoten über die Exzesse linker Anti-Rassisten finden“, doch blieben diese ein „marginales Phänomen“. Die derzeitigen antiuniversalistischen Entwicklungen im progressiven Lager zielten nicht darauf, „Menschen in irgendwelche Identitätsgefängnisse zu sperren“, sondern vielmehr auf „die Einforderung von Grundrechten“.6

Doch gerade wenn es einem um Grundrechte zu tun ist, sollte man den wachsenden Widerstand gegen den Universalismus der Aufklärung und die damit verbundene Überzeugung, Kant sei der Vater des modernen Rassismus und sogar des Nationalsozialismus gewesen, ernster nehmen.7 Es geht nicht nur um ein paar saftige Anekdoten wie die Entlassung eines Kolumnisten des Guardian oder eines Chefredakteurs der New York Review of Books, weil sie Ansichten hegten, die dem allgemein Geläufigen nicht entsprachen. Während wir in eine Epoche eintreten, in der wir die westliche liberale Demokratie in Europa zu stärken und den Aufstieg rechtsextremer Politik und eines ethnischen Nationalismus zu bekämpfen haben, zudem mit globalen Katastrophen und Migrationswellen konfrontiert sind, macht es einen Unterschied, ob wir an der Idee des universellen Humanismus als einen Kompass, sogar als einer Waffe festhalten, oder ob wir eine Gesellschaft hervorbringen, in der diese Idee verspottet und verachtet wird.

Ich kann mir vorstellen, dass viele liberale Universalisten in der politischen Mitte an diesem Punkt zustimmend nicken. Das aber wäre voreilig. Seit vielen Jahren schon schrumpft das, was liberale Demokraten unter „Universalismus“ verstehen, unablässig, sodass heute nur noch die leere Hülse des Begriffs geblieben ist. Das klarste Indiz für diese Leere besteht vielleicht im Verschwinden des Begriffs der Pflicht und der Vorherrschaft des Begriffs der Rechte. Wir alle sind mit dem Kanon der Menschenrechte vertraut, der sich am Ende des Kalten Krieges „als die internationale Moral des Endes der Geschichte“ herausbildete und heute eine „ganze Bibliothek“ von Literatur zu ihrer Begründung verlangt.8 Während eine gewaltige Fachliteratur zur Geschichte, Philosophie und Soziologie der Rechte vorliegt, wird die Frage, ob es auch immer noch Menschenpflichten gibt, kaum je gestellt. Wie ein klassischer Aufsatz zum Thema ausführt, ist der Begriff des Rechts modern und säkular, der Begriff der Pflicht hingegen vormodern und religiös; Pflichten sind „heteronom“, wie Philosophen sagen: Mose brachte geschriebene göttliche Pflichten vom Berge Sinai herab und gab sie den Hebräern. Rechte hingegen sind das Kennzeichen der menschlichen Selbstbestimmung und Autonomie.9


5 Jan-Werner Müller: »Die Mär von der illiberalen Linken«, 13. August 2020, www.ipg-journal.de/regionen/nordamerika/artikel/die-maer-von-der-illiberalen-linken-4569/ (zuletzt aufgerufen am 17. 5. 2022).
6 Ebd.
7 Vgl. Robert Bernasconi: »Kant as an Unfamiliar Source of Racism«, in: Julie K. Ward / Tommy L. Lott (Hrsg.): Philosophers on Race. Critical Essays, Oxford 2002, S. 145–166; insbesondere aber Charles W. Mills: The Racial Contract, Ithaca, NY 1997, S. 72; ders.: »Kant’s Untermenschen«, in: Andrew Valls (Hrsg.): Race and Racism in Modern Philosophy, New York 2005, S. 169–193.
8 Samuel Moyn: »The Modernization of Duties«, in: Liberties 2 (2022), H. 2, S. 51–75, hier S. 52. Bemerkenswerterweise lässt dieser eindringliche Aufsatz den einen modernen Philosophen unerwähnt, der sich sehr wohl um die Modernisierung des Pflichtbegriffs bemüht hat, nämlich Immanuel Kant. Man wird sein Vorhaben nicht als eine Nebenepisode in der Entwicklung des modernen politischen Denkens bezeichnen wollen. Eine auffällige Ausnahme vom allgemeinen Trend ist Aleida Assmann: Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft, Wien 2018.
9 Robert Cover: »Obligation. A Jewish Jurisprudence of the Social Order«, in: Journal of Law and Religion 5 (1987), H. 1, S. 65–74.


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