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#sachbuchpreisbloggen Hanno Sauer "Moral"


#sachbuchpreisbloggen Hanno Sauer "Moral"

Jule Gerwens, Bionoema

Erfindung oder tief verwurzelt? – Eine Geschichte der Moral

Deutscher Sachbuchpreis 2023

In diesem Jahr war ich, wie bereits im Beitrag Sachbuchpreis 2023 beschrieben, Teil der Blogger*innen-Gruppe, die die einzelnen nominierten Titel betreut. Gezogen habe ich im Rahmen dessen Moral. Die Erfindung von Gut und Böse von Philosophie Professor Hanno Sauer (Piper Verlag). Mein Wunschbuch. Ein philosophisches Sachbuch über ein mir sehr wichtiges und generell spannendes Thema – und dann auch noch von einem so sympathischen Autor! (Wir trafen uns auf der Leipziger Buchmesse nach seinem Gespräch mit dem Deutschlandfunk Kultur-Podcast „Sein und Streit“. Ein wirklich tolles Gespräch auf Augenhöhe.)

Den Preis erhielt Sauer für sein Moralbuch allerdings nicht, sondern Ewald Frie mit Ein Hof und elf Geschwister (C.H. Beck).

Worum geht es?

Es ist keine Philosophie-Geschichte, sondern viel mehr ein Nachzeichnen der Entwicklung der Moral von vor 5 Millionen Jahren, während der homo sapiens, wie wir ihn heute kennen, noch nicht soweit entwickelt war – bis hin zur aktuellen Krisengesellschaft. Woraus entspringt unser Verständnis von Moral, wie wurden wir zu kooperierenden Wesen, warum, und wie soll uns das alles heute weiter helfen? Was formte unser moralisches Verständnis über die Jahrmillionen biologischer, kultureller, sozialer und historischer Entwicklungen? All diesen Fragen widmet sich dieses Sachbuch. Eingeteilt in Etappen versucht Sauer ein Bild zu schaffen, dass auf unterschiedliche Stadien der Entwicklung eingeht: Gruppenbildung, Sanktionen, Ungleichheit usw. Sauer möchte einen Beitrag leisten, moderne Gesellschaften und ihre Dynamiken besser zu verstehen, wie er im Vorwort ankündigt. Ob ihm das auch gelingt?

Moral 2.0

Bereits zu Beginn des Lesens fehlt mir etwas: der Bezug zum Titel. Sauer möchte absichtlich auf eine Ansammlung von Definitionen von Moral verzichten, da wir ganz unabhängig von der Vielzahl derer, intuitiv wüssten, was das (für uns) bedeute. Definitionen engen den Begriff bisweilen ein, statt ihn zu erleuchten. Das kann ein legitimer Ansatz sein, insbesondere dann, wenn sich in den ersten Kapiteln zunehmend herausstellt, dass Moral etwas sehr dynamisches ist und sich zwischen den Jahrmillionen nicht nur einmal gewandelt hat. Jedoch verschwimmt dahingehend für mich immer weiter der Untersuchungsgegenstand. Die ersten Kapitel sind wohl eher anthropologischer, denn philosophischer Natur. Die Herkunft der Menschen und ihre Entwicklung hin zu sozialen Gruppen, Kollektiven sind wichtig für die Moralgeschichte. Jedoch kündigt sich hier für mich bereits an, was sich durch das restliche Buch ziehen wird: es ist meiner Meinung nach zu ab- und ausschweifend. Durch die ganzen Einschübe, Blicke über bestimmte Punkte hinaus, lässt sich der rote Faden nicht mehr erkennen und dadurch auch nicht, wohin der Autor mich als Lesende führen will. So taucht der Begriff der Moral bisweilen über Seiten hinweg gar nicht mehr auf. Lässt man das Buch nach Wortstämmen durchsuchen, zeigt sich das ebenfalls:

„Moral“: 486
„Mensch“: 470
„Erfindung“: 23
„Gut“: 111
„Böse“: 13
(Hierein fallen auch Wörter, die in Überschriften, Titel, Deckblatt, Inhaltsverzeichnis und Literaturverzeichnis auftauchen).

Wenn wir die „überflüssigen“ Verwendungen aus Überschriften, Literatur usw. mit etwa 100 abziehen, verbleiben noch 386 Wörter mit Bezug zum Wortstamm „Moral“. Auf 351 Seiten Haupttext, bleibt rund eins pro Seite. Ganz schön wenig dafür, dass es eine Moralgeschichte sein soll. Von den Wörtern „Erfindung“ und „schlecht“ mal ganz zu schweigen. Wo ist die Erklärung dieser Erfindung geblieben?

Von hinten durch den Rücken ins Auge

Beim Lesen des Textes sind mir noch einige Punkte mehr ins Auge gestochen, die für mich nicht nur den Lesefluss, sondern auch meine Motivation zum Weiterlesen gestört haben. Ein großes Manko war für mich die Struktur. Immer wieder geriet der Text ins Stocken, da Unterkapitel in keinem Bezug zueinander standen, diese Abschnitte in sich sprunghaft waren. Definitionen von Begriffen, die auf den letzten 5 Seiten bereits verwendet, erst dann aufgeklärt oder auf den Punkt gebracht wurden. Die Epigenetik wurde komplett außen vor gelassen, abgewertete Strategien anderer von Zeit zu Zeit selbst angewandt. Es dauerte, bis ich in Moral gänzlich einsteigen konnte, was u.a. auch an einer Unstetigkeit des Verfassers lag. Zu viele Sprünge, der mangelnde Rückbezug zum Titel. Es scheint, als hätte sich Sauer selbst erst hineinschreiben müssen in die Thematik. So las es sich für mich. Lediglich die späteren Kapitel und Philosophie-Abschnitte wirkten für mich authentisch kompetent. Hier spürte ich, mit welchem Fachwissen und welcher Expertise der Autor diese Zeilen niederschrieb. Davon hätte ich mir gern mehr gewünscht. Einen philosophischen Essay, ein kurzes, prägnantes Buch, das auf den Punkt kommt. Meines Erachtens nach wäre das deutlich zielführender gewesen.

Die Zerstückelung und Ausschweifungen führten für mich lediglich zu noch mehr Verwirrung in der Moral-Debatte statt zu Verständnis oder Aufklärung. Auf 350 Seiten folgte ich den Schlängellinien der Moralgeschichte, verlief mich mehrmals trotz Hintergrundwissen und wurde mehr und mehr orientierungslos.

Für mich widersprüchlich stehen sich auch gegenüber, Gut und Böse seien Erfindungen, die sich im Laufe der Zeit entwickelten, Moral selbst nicht festgeschrieben, sondern wandelbar. In den letzten Zügen tauchen dann allerdings universelle Werte auf, die wir alle tief in uns anerkennen. Das muss sich nicht ausschließen, sofern beides ergänzend erwähnt wird. Als Grundbaustein sozusagen – aber Fehlanzeige. Auch ein Verweis auf seinen Philosophie-Kollegen Markus Gabriel, der 2020 mit seinem Buch Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert (Ullstein) sich für das Vorhandensein der universaler Moralwerte aussprach, bleibt aus.

Gute Idee mit „böser“ Umsetzung

Nicht, dass sich hier ein Missverständnis einschleicht: Ich finde die Idee der Moralreise ganz wunderbar, ebenso wie das Schreiben des Autors und seine fachliche Expertise. All das hätte ich mir von ihm gewünscht, statt diesem zu groß gedachten Sachbuch, dass sich zäh in die Länge zog und mir nur wenig Neues bieten konnte. Hin und wieder erschien mir der Text auch nicht besonders gut zusammengesetzt, sodass ich mich fragen musste, ob diese Passagen überhaupt lektoriert wurden. Ebenfalls ein Abschnitt im 7. Kapitel zur politischen Lage, in der Sauer über Seiten hinweg sich in Phrasen, Metaphern, komplizierten und langen Sätzen, Ironie, ja fast schon Satire verliert. Immer wieder Stilbrüche, die für mich deplatziert wirken. Keinen Mehrwert bieten. Aufgestoßen ist mir auch, dass der Autor zwar Black Live Matter, Rassismus und gender thematisiert, jedoch schwarz durchweg klein schreibt. Wie Amnesty International und viele andere Autor*innen, Bücher zeigen, sollte in einer diskriminierungssensiblen Sprache von Schwarzen (Menschen) gesprochen werden, da es sich dabei um eine politische Selbstbezeichnung handelt, die immer auch Rassismuserfahrung mit einschließt. Aber das nur am Rande.

Ich habe letztlich die ganzen Hoffnungen in den Schluss gesetzt, auf eine Zusammenfassung gehofft, die allerdings nur etwa 5 Seiten übernahm. Stattdessen Ausführungen zur politischen Polarisierung, die uns scheinbar zu entzweien droht. Ein wichtiges Thema, das zeigen soll, dass wir uns alle doch auch näher stehen oder nicht so tief in politischen Gräben verharren, wie wir meinen, dass wir aufeinander zugehen und einander zuhören müssen. Wichtig – aber an der Stelle unpassend, da auch diese Aussage letztlich nicht pointiert verschriftlicht wurde.

Der Ausblick auf unser gegenwärtige Gesellschaft, die intensiven Debatten der Identitätspolitik, der Klimakatastrophe und dem Fortbestehen unserer Menschheit unter moralischen Gesichtspunkten war für mich allerdings zu oberflächlich. Ja, Forscher berichteten bereits vor mehreren Jahrzehnten von den verheerenden Konsequenzen und Entwicklungen. Aber was sollen wir jetzt tun? Sollen wir weiter an der Moral festhalten, sie neu formen, … oder ist die Aussage, wir müssten uns alle mehr aufeinander einlassen schon der Weg? Ich weiß es nicht.

Für mich steckt in dem ganzen Buch leider völlig der Wurm drin. Von der Struktur, bis zur unsteten Stilistik, den Leerstellen und dem lückenhaften Bezug zum Titel frisst er sich durch die Seiten und lässt mich etwas ratlos und ernüchternd zurück.

Positiver Ausblick

Auch wenn mir die Umsetzung nicht zusagt, kann ich Hanno Sauer als Gesprächspartner und in seinen Ansätzen empfehlen. Die Aufzeichnungen mit ihm und auch sein Auftritt auf der Preisverleihung des Sachbuchpreises waren mir sehr sympathisch. Ich bin gespannt, was von ihm noch zu lesen/zu hören sein wird und bleibe dran.

Vielen Dank für die Chance, Teil des Deutschen Sachbuchpreises zu sein und auch Hanno Sauer für das Gespräch und seine Zeit. Danke für das Rezensionsexemplar.

Der Originalbeitrag ist auf Jule Gerwens' Blog Bionoema erschienen.


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