Über Israel reden -

Über Israel reden

Eine deutsche Debatte


Über das Buch

Als Meron Mendel vor zwanzig Jahren nach Deutschland kam, stellte er überrascht fest, welche Bedeutung Israel im öffentlichen Diskurs hat: Zu Israel hat jeder eine Meinung. Warum ist das so? Weshalb hat der Nahostkonflikt eine solche Bedeutung? Und warum ist die Debatte so emotional – und oft so vergiftet?

Jury­begründung

Seit Wochen demonstrieren hunderttausende Menschen auf Israels Straßen für den Erhalt ihrer Demokratie. Das Land erlebt die größte Krise seit der Gründung vor 75 Jahren. In seinem teilweise autobiographischen Essay „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“ widmet sich Meron Mendel den großen Kontroversen der vergangenen Jahre. Es geht um Israel und die deutsche Staatsräson, um Antisemitismus und Erinnerungskultur, um den Historikerstreit und die Documenta. Als Pädagoge ist Mendel um eine vermittelnde Position bemüht, er will Brücken bauen zwischen den Kontrahenten. Zugleich wagt er sich auch an den Nahostkonflikt selbst und hinterfragt die festgefahrenen Bilder, die Israelis und Palästinenser sich voneinander machen. Ein ruhiges Buch, das um Ausgleich in hitzigen Debatten bemüht ist.

Meron Mendel

Meron Mendel (*1976) wuchs in einem Kibbuz auf, studierte in Haifa und in München Pädagogik und Jüdische Geschichte, promovierte in Frankfurt und ist heute Professor für Soziale Arbeit und Leiter der Bildungsstätte Anne Frank.

Sachbuch-Slam 2023

Aus dem Buch

Meine erste Kindheitserinnerung ist aus dem Sommer 1982. Als ich aus dem Kindergarten nach Hause kam, stand mein Vater vor unserer Haustür, in Soldatenuniform und mit einem schweren Seesack über der Schulter. Wir verabschiedeten uns hastig, da er als Reservist schnellstmöglich zu seiner Armeeeinheit fahren musste: von unserem Kibbuz in der Negevwüste, ganz im Süden Israels, hoch in den Norden an die libanesische Grenze, die nun eine Front war. Der erste Libanonkrieg war ausgebrochen. Damals sprach man jedoch weder von „Krieg“ noch davon, dass er der erste in einer Reihe sein könnte. Uns Angehörigen wurde erklärt, es gehe lediglich um eine kurze militärische Operation mit dem beruhigenden Namen „Frieden für Galiläa“.

Wenige Monate später wurde die „Operation“ in „Krieg“ umbenannt. Mein Vater kehrte zwar schon nach einigen Wochen zurück, die israelische Armee aber blieb fast 20 Jahre. 1995 wurde ich selbst zum Wehrdienst einberufen und als Infanteriesoldat in den Libanon geschickt. Ich war an einem Militärstützpunkt in der Stadt Mardsch Uyun stationiert, von der mir mein Vater schon erzählt hatte.

Warum ich das erzähle? Es liegt auf der Hand, dass mein Blick auf Israel und den Nahostkonflikt stark biografisch geprägt ist. (…)

Mein Alltag als Kind und Jugendlicher war kaum von der Politik beeinflusst. Oder genauer gesagt: Die militärischen Konflikte mit den Palästinensern und den israelischen Nachbarstaaten waren so stark in unserem Alltag verankert, dass wir sie kaum bemerkt haben. Unser Kibbuz in der Wüste war auf allen Seiten von Truppenübungsplätzen umgeben. Kampfjets und Militärhubschrauber flogen in virtuosen Manövern täglich über unsere Köpfe hinweg. Der Sound von Panzermotoren und Artilleriesalven war uns so vertraut, dass wir ihn gar nicht mehr wahrnahmen. Auf unseren Spaziergängen über karge Hügel sammelten wir alte Munition, die wir als Blumentöpfe oder einfach als Dekoration benutzten. Auch die Gasmasken, die wir Anfang der 90er-Jahre während des Zweiten Golfkriegs zum Schutz vor den Scud-Raketen aus dem Irak bekamen, haben wir umfunktioniert: als Atemschutz beim Lackieren von Bettgestellen oder als lustige Kostüme an Purim, dem jüdischen Freudenfest, das so ähnlich gefeiert wird wie Karneval.

Zu Hause im Kibbuz hielten wir uns für links, tolerant und weltoffen. Die Lebensrealität war aber wenig bunt: Hier lebten nur Juden – und so ist es bis heute. Arabern begegneten wir nur, wenn wir in die Zelte der benachbarten Beduinen eingeladen waren. Ansonsten kannten wir sie vor allem aus den Fernsehnachrichten über militärische Konflikte an den israelischen Grenzen. In der Theorie wollten wir alle in Frieden mit den Arabern leben, aber als tatsächlich eine arabische Familie in unseren Kibbuz ziehen wollte, stand ihre Aufnahme nicht einmal zur Debatte.

Die Geschichte des Anderen ertragen

In meiner Jugend wurde der Nahostkonflikt zur treibenden Kraft meiner Politisierung. Leider hatten meine Freunde im Kibbuz kaum Interesse an Politik, aber nach der achten Klasse wechselte ich auf ein Gymnasium in der Stadt. Mein Schulweg mit dem Bus war nun sehr lang (anderthalb Stunden hin, anderthalb Stunden zurück), aber ich fand dort Freunde, die sich so sehr für Politik interessierten wie ich. Die Eltern einiger Mitschüler hatten Ende der 70er-Jahre die Bewegung „Peace Now“ mitbegründet (…).

Damals haben wir viel gelesen und diskutiert, unter anderem „Der geteilte Israeli“ von David Grossmann.1 Für sein Buch hatte der Schriftsteller Palästinenser begleitet, die 1948 im ersten israelisch-arabischen Krieg geflüchtet waren und nun nach Israel zurückkehrten – nur um festzustellen, dass es ihre alten Häuser nicht mehr gab.

Schon bald wollten wir Kontakt mit Palästinensern aufnehmen – aber auf unserer Schule war kein einziger. Das israelische Bildungssystem war damals stark getrennt in jüdische und arabische Schulen. Bis heute sind binationale Schulen in Israel eine Ausnahme. Aber wir erfuhren von einem Dorf bei Jerusalem mit dem vielversprechenden Namen Neve Shalom („Oase des Friedens“). Dort finden regelmäßig Begegnungen zwischen arabischen2 und jüdischen Schülern statt. Wir kontaktierten das Dorf und trugen die Idee unseren Klassenkameraden und schließlich der Schulleitung vor. Am Ende durfte eine handverlesene Gruppe aus unserer Jahrgangsstufe nach Neve Shalom fahren. Dort trafen wir uns eine Woche lang mit Jugendlichen aus der nordisraelischen arabischen Stadt Sachnin – und mussten schon bald feststellen, wie weit entfernt voneinander unsere Sichtweisen auf den jüdisch-arabischen Konflikt waren. Wir Juden waren überzeugt, dass die Araber uns dankbar sein sollten, dass wir für ein Ende der israelischen Besatzung eintraten. Deshalb waren wir erst mal beleidigt, als sie unserer Haltung keinerlei Respekt zollten – dabei hielten wir diese für äußerst fortschrittlich! Für die palästinensischen Schüler war die Begegnung mit einer jüdischen Gruppe vielmehr eine Gelegenheit, endlich einmal ihren Frust über Diskriminierung und Ausgrenzung in Israel rauszulassen. „Warum müssen wir mit euch eigentlich Hebräisch sprechen?“, fragten sie uns. „Lernt doch mal Arabisch!“


1 David Grossman 1992, Der geteilte Israeli.
2 Zum besseren Verständnis: Bei dem Austausch trafen wir jüdischen Israelis auf arabische Israelis – also in Israel lebende Araber, die ebenfalls israelische Staatsbürger sind. Alle waren Palästinenser, jedoch nicht aus den besetzten Gebieten. Diese gelten bis heute offiziell als staatenlos.


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