Wo die Fremde beginnt -

Wo die Fremde beginnt

Über Identität in der fragilen Gegenwart

Verlag

C.H.Beck

Verlagswebsite

C.H.Beck

Artikel von Elisabeth Wellershaus

Contemporary And

Artikel von Elisabeth Wellershaus

ZEIT ONLINE 10 nach 8


Über das Buch

Fremdheit ist ein Phänomen, das Elisabeth Wellershaus seit frühester Kindheit aus den Zuschreibungen anderer kennt. In ihrem Buch zeichnet sie nach, wie viel komplexer, allgegenwärtiger und bereichernder sie die Fremde selbst wahrnimmt – und warum sie uns verbindet.

Jury­begründung

Klare Verhältnisse hat es in der Kindheit von Elisabeth Wellershaus nicht gegeben. Als Tochter eines Schwarzen Vaters und einer weißen Mutter wuchs sie in einem wohlhabenden Viertel in Hamburg auf. Jahrzehnte später berichtet die Autorin nun über Fremdheit in Deutschland und über eine Zukunft, die keine festen identitären Zuschreibungen haben kann, wenn sie produktiv sein soll. Es ist der Versuch, die Debatten um Rassismus und Identitätspolitik hinter sich zu lassen und trotzdem nicht zu ignorieren. Ihre subjektive Erzählung bedient sich einer unaufgeregten, sensiblen und sehr genau beobachtenden und beschreibenden Sprache. Die Gewissheit im Hinblick auf Gemeinschaft und Kollektivität findet sie nicht, nur Grauzonen und die Erkenntnis: Das Dazwischen kann ein Zuhause sein.

Elisabeth Wellershaus

Elisabeth Wellershaus arbeitet als Autorin und Journalistin. Unter anderem schreibt sie Reportagen, Essays und Features, die sich mit der Zuschreibung von Fremdheit und der Auseinandersetzung mit Zugehörigkeit beschäftigen. Sie gehört zum Redaktions-Team der feministischen Kolumne „10nach8“ bei Zeit Online und arbeitet als Redakteurin für das Magazin Contemporary And, das zeitgenössische Kunst aus Afrika und der Diaspora verhandelt.

Gespräch mit Elisabeth Wellershaus

Aus dem Buch

Ich fühle mich heimisch zwischen reetgedeckten Häusern und neuen Wohnsiedlungen, die in vergangenen Jahren hinzugekommen sind. Doch das Fremdeln aus Kindertagen sitzt tief. Nach dem Besuch bei Familie S. sehe ich mich in Volksdorf zum ersten Mal seit langem wieder richtig um. Natürlich ist der Ort mehr als die Summe seiner Alarmanlagen. Da ist der Rodelberg an den U-Bahngleisen, der Weinladen am Park, der mal eine Eisdiele war, der Rummel auf dem Marktplatz, die Bibliothek, in der ich Stunden verbracht habe. Ich erinnere mich an wunderbare Lehrer:innen, nette Nachbar:innen, Felder, Wälder, Grundschule und Gymnasium, zu denen ich im Tross mit anderen Kindern des „Dorfes“ lief. Endlose Möglichkeiten für alle, denen man herkunftsbedingt keine Steine in den Weg legte – und meist auch für mich.

Als meine Großeltern starben, begannen meine holprigen Anpassungsversuche. Zehn Jahre lang hatten meine Mutter und ich mit ihnen zusammengelebt. Mit den beiden Alteingesessenen hatten wir das Ideal der heilen Kleinfamilie auf verschobene Weise erfüllt. Ohne sie fielen wir auf einmal unangenehm auf. Auf einmal schien das Reihenhaus, in dem wir wohnten, zu leise, der homogene Vorort, in dem es stand, zu eng. Ein Schwarzes Mädchen mit Ferienvater, der in Spanien lebte, schien ebenso wenig hineinzupassen wie eine überlastete, alleinerziehende Krankenschwester im Schichtdienst. Die lustige, exzentrische Familie, die wir mit meinen Großeltern gewesen waren, gab es nicht mehr. Nur noch ein deplatziertes Mutter-Tochter-Gespann, das den Konventionen nicht standhielt. Plötzlich schämte ich mich für unser Anderssein und hielt es, so gut es ging, versteckt.

Bei Fahrradtouren durch Berlin, von Pankow über den Wedding nach Mitte oder Kreuzberg, erscheinen mir das homogene Umfeld und die eindimensionalen Perspektiven aus Kindertagen geradezu surreal. Von „fremden Kulturen“ und klaren Zugehörigkeiten lässt sich in den meisten europäischen Großstädten kaum noch sprechen. Es leben Alteingesessene neben Neuzugezogenen. Es existiert eine Vielfalt an Religionen, Sprachen und kulturellen Gewohnheiten vor der eigenen Haustür. An Weltanschauungen, sexuellen Identitäten und sozialen Schichten. Doch inmitten von Superdiversität und Multikollektivität haben Menschen, die von der „Mitte der Gesellschaft“ aus als randständig angesehen werden, noch immer schlechte Karten, wenn es um Mitbestimmung geht – darum, die eigene Geschichte sicht- und hörbar zu machen.

Eine Kindheit mit alteingesessener weißer deutscher Familie und Bildungsmöglichkeiten haben mir Privilegien mit auf den Weg gegeben. Und doch scheitere ich als Schwarze Frau daran, mich in dieser Gesellschaft stabil zu verorten. Es fällt mir nicht immer leicht, moderate Töne zu finden, meine Stimme zwischen laut und leise modulieren zu lassen. Nie ganz sicher, ob sie schreiend oder flüsternd mehr Gehör findet.

Ich habe mir lange nicht eingestanden, welchen Preis ich für die Zugehörigkeit gezahlt habe. Wie oft ich runtergeschluckt und weggelacht, verdrängt und verharmlost, wie ich die vermeintliche Fremdheit internalisiert und angenommen habe, anstatt sie zu verhandeln. Wie mühsam der Weg vom homogenen Hamburger Vorort bis zur Vielfalt meines heutigen Lebens war. Und wie sehr die Auseinandersetzung mit meiner deutschen Familie davon betroffen ist – die Beziehung zu meinem Mann, meinen Kindern, Freund:innen, Arbeitskolleg:innen.

Ohne die Perspektiven auf unsere unterschiedlichen Erfahrungen aber bliebe mein Blick verstellt. Ohne das diverse Wir, das meine Verbindung zu ihnen beschreibt, wäre meine Sicht auf die Probleme der Gegenwart erschütternd eindimensional. Ohne den Glauben an ein Wir, das sich nicht in Harmonieerzählungen und nicht in der Panik vor Fremdheit verliert. Die Schriftstellerin Toni Morrison schreibt über dieses Wir, es müsse „Unterschiede aushalten, ohne die Abweichungen des anderen zum Vorwand für Abwertung zu nehmen“.

Wenn ich diesem Wir begegnen will, muss ich wahrscheinlich akzeptieren, dass die Fremde auch für mich in unmittelbarer Nähe beginnt. Sie schleicht sich in meine Baugruppe und setzt sich auf den Balkonen alteingesessener Nachbar:innen fort. In der Männergruppe neben meinem Büro wirkt sie ähnlich verschwommen wie bei förmlichen Abendveranstaltungen. In Gesprächen mit jungen Kolleg:innen blitzt sie auf, in manchen Volksdorfer Häusern ist sie allgegenwärtig. Und es liegt immer auch an mir, ihr zu begegnen.

„Identität besteht aus einer Reihe von Entscheidungen und Haltungen gegenüber einer bestimmten Sozialisierung, einem Familienerbe, bestimmten Erfahrungen“, schreibt die französische Journalistin Cécile alla. Der Emaille-Topf, in dem meine Großmutter ihre Quittenmarmelade einkochte, steht in meinem Berliner Keller, daneben die Seemannskiste meines Großvaters. Ihre Ahnenpässe liegen in einer Schreibtischschublade, an der Wand gegenüber hängt ein Bild von meiner Mutter. Die kitschige dreibeinige Spieluhr, die mein Vater mir vor Jahrzehnten geschenkt hat, dient als Buchstütze im Regal daneben. Verstrickte Familie auf fünfzehn Quadratmetern Arbeitszimmer.


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