Betrachtungen einer Barbarin -

Betrachtungen einer Barbarin


Über das Buch

Als Kind iranischer Eltern ist Asal Dardan in Deutschland aufgewachsen, die Erfahrung des Exils hat sie geprägt. Dieses Buch dokumentiert ihre Suche nach der Überbrückung des ewigen Gegensatzes von „Wir“ und den „Anderen“.

Jury­begründung

Die Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan, in Teheran geboren, in Deutschland erwachsen geworden, schreibt über das Mensch-Sein: über Grunderfahrungen wie Migration, Flucht, Reisen und die Fremde. Dardan erzählt von vermeintlich uralten Familientraditionen, die man tatsächlich doch erst neu erlernen muss, und von rückwärtsgerichteten Etiketten, die einfach nicht passen, von Elternsprachen, die einem entgleiten und neuen Familien, die einem erwachsen. Scheinbar mühelos schlägt ihr eleganter Essay den Bogen von Land zu Land und Generation zu Generation, immer stilsicher, über Sprache reflektierend und mit ihr spielend. Damit eröffnet die Autorin nicht zuletzt auch eine wunderbare Alternative zu jenen starren Identitätsdiskursen, die Menschen fesseln, anstatt sie zu befreien.

Asal Dardan

Asal Dardan, geboren 1978 in Teheran, wuchs nach der Flucht ihrer Eltern aus dem Iran in Köln, Bonn und Aberdeen auf. Sie studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim und Nahoststudien in Lund. Als freie Autorin schreibt sie u.a. für Zeit Online, die FAZ und die Berliner Zeitung. Außerdem arbeitet sie als freie Redakteurin und Autorin für das Online-Magazin was wäre wenn. Für ihren Text Neue Jahre wurde sie mit dem Caroline-Schlegel-Preis für Essayistik ausgezeichnet. Nach Jahren auf Öland in Schweden lebt Asal Dardan heute mir ihrer Familie in Berlin.

Lese­probe


Meine Flucht ist eine Erzählung, keine Erfahrung. [...] Meine eigene Erinnerung setzt irgendwann in der Hochhauswohnung im Kölner Stadtteil Höhenberg ein. Ich sitze alleine am Küchentisch, esse Hühnersuppe und warte auf den Weihnachtsmann. Ich ahne bereits, dass mein Vater derjenige ist, der die Geschenke unter den Baum legt, vermute aber, dass das in Absprache mit dem Weihnachtsmann geschieht. Ich will mich vorbildlich verhalten. Die Engel beobachten mich, einer fliegt sogar über den Kopf meiner Mutter hinweg durch den Türrahmen, während sie auf den Knien den Linoleumboden putzt. »Immer putzt sie, deine Mutter«, sagt mein Vater. »Dabei versteht sie nicht, dass sie so das Gift nur weiterverbreitet.« Ich glaubte ihm alles, weil er alles wusste.

Wenn ich an die Zeit in dieser Wohnung zurückdenke, dann ist meine Mutter fast unsichtbar, weil mein Vater jeden Winkel meiner Erinnerung ausfüllt. Das mütterliche Gerüst hielt alles zusammen, aber es war die väterliche Zierde, die ich bewunderte. Er brachte mir das Fahrradfahren und Schachspielen bei, er ließ mich stundenlang auf seinem Schoß sitzen, während er persische Gedichte rezitierte oder mir die Welt erklärte. Er behandelte mich wie eine kleine Freundin, deren Gesellschaft er wertschätzte. Heute denke ich, dass ich seine einzige Freundin war, und das macht mich sehr traurig. Doch nichts an dieser Zeit wirkte verdächtig oder deutete darauf hin, dass sie von einem Tag auf den anderen enden würde. Im Grunde hatte ich eine idyllische Kindheit, auch wenn die Hochhäuser von Höhenberg nicht die klassische Kulisse dafür sind. Aber ich dachte nicht viel über mein Leben nach, ich war, und bloß sein zu können kommt einer Idylle sehr nahe. Wenn man sie nicht wahrnimmt, kann Enge sehr gemütlich sein, gerade als Kind. Ich hatte die gleiche rosa Tapete mit weißen Punkten wie Ernie aus der Sesamstraße, und ich fand es aufregend, die Tüten in den Müllschlucker zu werfen und dann in den knarzenden Aufzug zu springen. Alles befand sich an seinem Platz, und mein eigener Platz befand sich im Zentrum von allem. Erst viel später machte sich bemerkbar, dass mir die materiellen und symbolischen Anhaltspunkte fehlten, um mich und meine Eltern in dieser Welt zu verorten. Inzwischen sind mir meine Eltern entwischt, und damit sind mir auch Teile meiner selbst entwischt. Man gewöhnt sich daran, dass das Leben wie ein Netz ist, etwas bleibt ja doch darin hängen. Nach dem Rest darf man nicht greifen, sonst reißen die Maschen, und dann ist alles weg.

Da meine Eltern kaum etwas aus dem Iran hatten mitnehmen können, fingen wir ohnehin mit wenig an. Es gab in unserer Wohnung keine Familienfotos und keine Erbstücke, keine alten Bücher, keine über Jahre gesammelten Gegenstände, keine Souvenirs oder Dinge, die man einfach nicht wegwirft, obwohl sie keinen Nutzen mehr haben. Es gab dort keine Erinnerungen, nur eine hatte ich selbst erschaffen, als ich mit einem Löschstift einen lächelnden Eierkopf auf unser neues braunes Ledersofa malte. Wir hatten nicht oft Gäste, aber wenn mal jemand bei uns war, gab es immer diese Geschichte zu erzählen, wie Asal direkt an dem Tag, als das Sofa geliefert wurde, ein Gesicht darauf verewigt hatte. Auf diese Geschichte war ich stolz, auch wenn ich zu dieser Zeit noch eine brave Tochter sein wollte.

An unseren Wänden hingen mehrere Drucke von Carl Spitzweg: Der Kaktusfreund, Der ewige Hochzeiter, Der Bücherwurm. Ich weiß nicht, wie sie dorthin kamen, aber ich mochte diese Bilder, ihre Beschaulichkeit und Harmlosigkeit. Sie waren, was sie zeigten. Hübsche erdfarbene Kulissen, in denen sich manierliche Menschen bewegten, die genau dort waren, wo sie hingehörten, und dennoch der Gegenwart zu entkommen schienen. Der Kaktusfreund gefiel mir ganz besonders. Er wusste, was zu tun war, welche Kleidung er zu tragen hatte, wie er sich bewegen sollte und womit er seine Zeit verbringen wollte. Er war, was er war. Ein alter Herr mit Pfeife, der in aller Ruhe im Garten inmitten seiner Pflanzentöpfe steht und eine einzelne rote Kaktusblüte inspiziert.

Damals wusste ich nicht, dass ich Spitzwegs hübsche Häuser und Straßen nicht in meiner Stadt wiederfand, weil sie in der Zwischenzeit von Bomben zerstört worden waren. Auch von Spitzwegs spöttischer Kritik am Biedermeierlichen seiner Zeit oder davon, dass er einer von Hitlers Lieblingsmalern war, hatte ich als Kind selbstverständlich keine Ahnung. Spitzwegs Bilder sind in der Tat zuweilen humorvoll, aber sogar der Humor ist durch und durch spießig, weshalb es mich nicht wundert, dass dem provinziellen Kitschkopf Hitler die überschaubaren Landschaften und die vom modernen Leben unberührten bürgerlichen Szenen gefielen. Das Absurde am Nationalsozialismus ist ja, dass er zelebrierte, was er im gleichen Zuge zerstörte, weil er alles reiner und besser zu erschaffen meinte. Doch das, was er erschuf, ist leblos und falsch, und selbst das, was gerettet wurde, kann nur noch durch einen braunen Schleier gesehen werden, als habe sich Hitler nachträglich in alles eingeschrieben, was vor ihm da war.


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