Über das Buch

Die Welt ändert sich während der Lebensjahrzehnte Georg Wilhelm Friedrich Hegels von Grund auf. Und zwar durch Ideen, die zu Revolutionen führten: politische, industrielle, ästhetische und pädagogische. Jürgen Kaube erzählt Hegels Leben, erläutert sein Werk und zeigt, wie jene epochalen Umbrüche zum Versuch einer letzten Revolution führen: der des Denkens.

Jury­begründung

Jurybegründung Sachbuch des Jahres 2021

Mit dem Genre der Heldenerzählung räumt Jürgen Kaube in seiner Biografie über Georg Wilhelm Friedrich Hegel gründlich auf. Er schildert den Philosophen so elegant wie ironisch als Mann, der die Widersprüche der Umbruchzeit um 1800 wahrnimmt, durchdenkt, und doch auch immer wieder ihr revolutionäres Potenzial verkennt, etwa wenn es um die Freiheitsansprüche der Frauen geht. Geistesgeschichte ist bei Kaube Kulturgeschichte, und die Stärke Hegels war es, sich allen Wissensgebieten mit ganzer Person auszuliefern und dabei an den eigenen Erkenntnissen zu zweifeln. Dieses Sicheinlassen auf eine sich ändernde Welt macht Hegel so inspirierend für die Gegenwart, in der sich das unvoreingenommene Denken gegen falsche Gewissheiten, Wissenschaftsfeindlichkeit und Ausgrenzung von Schwächeren behaupten muss.

Jurybegründung zur Nominierung

Hegel wurde oft in Krisenzeiten zur Lektüre herangezogen, auch gegenwärtig wieder; ist doch unser Gesellschafts- und Staatsverständnis ganz wesentlich von diesem Denker am Übergang zu einer neuen Epoche geprägt. Hegel, so zeigt Jürgen Kaube in seiner monumentalen Biografie des Philosophen, erfuhr die Zerrissenheit der modernen Gesellschaft als grundlegend. Kaube fächert uns den Geist der Moderne im Spiegel von Hegels Leben und Schaffen auf. Wer seinem analytischen Blick folgt, entdeckt nicht nur Hegels welthaltiges Werk, das alles Neue zu entschlüsseln sucht, sondern lernt einen fragenden Philosophen kennen, der sich in seinem Denken radikal den Widersprüchen stellt. Wie leichtfüßig, elegant und manchmal ironisch dieses Buch uns die hegelsche Möglichkeit zur Freiheit nahe bringt, ist virtuos und lehrreich.

Jürgen Kaube

Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuvor leitete er dort das Ressort Geisteswissenschaften und war stellvertretender Feuilletonchef. 2012 wurde er vom medium magazin als Journalist des Jahres im Bereich Wissenschaft ausgezeichnet, 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Seine vielgelobte Max-Weber-Biographie (2014) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Die Rede des Preisträgers

Buch und Autor im Porträt

Lese­probe


Aus der Einleitung

Noch scheint alles ruhig. Die Welt, überwiegend aufgeteilt in Monarchien, ihre Kolonien und viele weiße Flecken auf der Landkarte, befindet sich um 1770 augenscheinlich nicht in revolutionärem Aufruhr. Es gibt Kriege, aber die gab es immer. So wie den Handel. Überall in Europa kommt jetzt Industrie auf, fabrikförmige Wirtschaft mit hoher Arbeitsteilung, sowie das wissenschaftliche Denken und Forschen. Es stützt sich auf immer mehr Teilnehmer, die untereinander zunehmend vernetzt sind und ständig neue Einsichten hervorbringen. Die chemischen Elemente werden entdeckt: 1766 der Wasserstoff, 1772 der Sauerstoff, 1775 der Kohlenstoff und 1777 der Schwefel. Die Zusammensetzung des Natürlichen wird also experimentell neu betrachtet, höher aufgelöst. Auch sonst wird viel publiziert, und zwar zu «weltlichen» Fragen, nicht mehr überwiegend zu solchen der Religion. 1775 findet in Deutschland ein Hexenprozess statt. Immer noch, mag man sich heute entsetzen, aber es ist der letzte, und sein Urteil wird nicht vollstreckt. Manche neigen deshalb dazu, vom Vordringen des Rationalismus zu sprechen. Doch wissenschaftlicher Verstand und die Versuche, Vorurteile zurückzudrängen, bilden keinen Gegensatz zur Entfaltung von Phantasie. Just um 1770 schießt die europäische Romanproduktion in die Höhe und wird nicht mehr abnehmen. Allein in England werden damals durchschnittlich dreihundert bis fünfhundert Romane pro Jahrzehnt veröffentlicht, nicht mehr nur fünfzig wie in den hundert Jahren zuvor.

Die Welt befindet sich also nicht im Umsturz, sie ist aber äußerst geschäftig. Es ist tatsächlich die Epoche der Aufklärung, von der Hegel sagen wird, ihre Devise sei: «Alles ist nützlich.» Auf allen Gebieten werden die Grenzen des Erfahrbaren stark erweitert. Fast möchte man meinen, dass sich erstmals in der Geschichte überhaupt «Welt» als sinnvoller Begriff für eine Wirklichkeit abzeichnet, die nicht nur von einem überirdischen Beobachter überblickt werden kann, sondern auch für den Menschen erreichbar ist. Erreichbar und nicht nur imaginierbar, weil alles expandiert, die Einbildungskraft wie das Wissen, die politischen Ambitionen wie das technische Vermögen. Zunehmend scheint auf dem Erdball alles mit allem zusammenzuhängen.

Der britische Kapitän James Cook etwa befindet sich 1770 auf seiner ersten Südseeexpedition. Als Georg Wilhelm Friedrich Hegel im August desselben Jahres in Stuttgart geboren wird, hat Cook, nachdem er kurz zuvor fast Schiffbruch erlitten hatte, gerade die Endeavour-Enge oberhalb Australiens durchquert und ist auf dem Weg nach Neuguinea. Cook war im Dienst der Wissenschaft unterwegs. Zusammen mit zwei Astronomen sollte er Daten liefern, um anhand des Venusdurchgangs vor der Sonne, der Anfang 1769 auf Tahiti gut zu beobachten war, die Entfernungen zwischen allen Planeten des Sonnensystems und der Sonne selbst exakt berechenbar zu machen. Andere astronomische Stationen dieser weltweiten Messaktion lagen an der mexikanischen Westküste, auf Haiti, in Pennsylvania, in Russland und in Norwegen. Ans Ende der Welt zu reisen, um den Abstand der Erde zu anderen Planeten zu messen, wodurch die Bewohner bislang vor sich hin lebender Gesellschaften erfahren, dass es andere Gesellschaften gibt – das ist Globalisierung, lange bevor das Wort in Umlauf kommt. «Welt», wird es sehr viel später heißen, ist ein Begriff, der nichts außer sich hat und zu nichts in Gegensatz gebracht werden kann. Auch die Venus ist «in der Welt», auch die Sonne, selbst Gott. Die Zeit, in die Hegel hineingeboren wird, ist also eine Zeit, in der das Weltganze immer mehr erschlossen und immer mehr in die Immanenz eines Wissens hineingezogen wird, das dem bloßen Meinen wie dem bloßen Glauben entgegensteht. So jedenfalls stellen es sich diejenigen vor, die sich auf der Seite des Wissens sehen.

Alles ist nützlich. James Cook hatte man damals über seine himmelskundliche Aufgabe hinaus mit dem Auftrag betraut, Handelswege zu erkunden. Vor allem aber sollte er die Existenz des «Südlandes» überprüfen, also die auf antike Spekulationen zurückgehende Vorstellung, dass aus Gleichgewichtsgründen im Pazifik eine riesige Erdmasse liegen müsse, von ähnlichem Ausmaß wie Eurasien. In den Instruktionen der britischen Admiralität hieß es, jene fernen Teile des Erdenrunds seien zwar entdeckt, aber unzureichend erforscht.

«Das Bekannte überhaupt», wird Hegel 1807 in seiner «Phänomenologie des Geistes» schreiben, «ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.» Das soll zum einen heißen: Es ist nur darum, weil es bekannt ist, noch lange nicht erkannt, denn Erkennen geht über Vertrautsein hinaus. Es heißt aber auch, und wir werden uns an solche Mehrdeutigkeiten in Hegels Schreibart gewöhnen müssen: Eben weil es bekannt ist, ist es nicht erkannt, denn Vertrautheit kann als Gefühl des «so ist es eben» geradezu ein Erkenntnishindernis sein. Weil man nicht zu dicht dran sein darf an dem, was man erkennen will, und weil man leicht Vertrautsein mit Erkannthaben verwechselt. Wir treten in eine Zeit ein, die eine Präferenz für Unvertrautes und das Unvertrautmachen von Bekanntem hat. Hegel wird beides als Merkmal von wissenschaftlichem Vorgehen festhalten. (…)


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