Moral -

Moral

Die Erfindung von Gut und Böse

Verlag

Piper

Verlagswebsite

Piper


Über das Buch

Wer verstehen will, wie unsere Moral unsere Identität bestimmt, muss ihre Geschichte verstehen: Hanno Sauer erzählt die Geschichte unserer Moral von der Evolution menschlicher Kooperationsfähigkeit vor fünf Millionen Jahren bis zu den jüngsten Krisen moralischer Polarisierung.

Jury­begründung

Standpunkte in aktuellen gesellschaftlichen Debatten werden zunehmend moralisch begründet. Was ist diese menschliche „Moral“ überhaupt, wie hat sie sich in der Menschheitsgeschichte als erfolgreiches Konzept herausgebildet, welchen universellen Kern hat sie, und welche Ausprägungen von Moral unterscheiden sich zwischen den Kulturen? Sauers umfassende Kulturgeschichte der Moral von den Anfängen der Menschheit bis heute verleiht den hochaktuellen moralischen Debatten unserer Zeit eine solide Basis – klug geschrieben, unterhaltsam und eine Anregung, eigene Überzeugungen zu hinterfragen.

Hanno Sauer

Hanno Sauer, Jahrgang 1983, ist Philosoph und lehrt Ethik an der Universität Utrecht. Er ist Autor zahlreicher Fachaufsätze und mehrerer wissenschaftlicher Werke. Zahlreiche Vorträge in Europa und Nordamerika.

Gespräche mit Hanno Sauer

Sachbuch-Slam 2023

Aus dem Buch

Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Werden wir uns, wenn sie zu Ende ist, noch lieben können?

Es ist eine lange Geschichte, denn sie handelt von allem, was uns wichtig war: unseren Werten, unseren Prinzipien, den Quellen unserer Identität, den Fundamenten unserer Gemeinschaft, vom Mit- und vom Gegeneinander, von den zwei Seiten des Verurteilens und Verurteilt- Werdens und dass wir nicht immer auf der Seite aufwachen, auf der wir uns schlafen gelegt haben.

Woran können wir uns orientieren? Wie wollen wir leben? Wie können wir miteinander auskommen? Wie ist es uns früher gelungen, und wie wird es in Zukunft möglich sein? Dies sind moralische Fragen, und die Geschichte, die ich erzählen will, ist eine Geschichte der Moral. Moral – das klingt nach Hemmung und Zwang, nach Einschränkung und Aufopferung; nach Inquisition, Geständnis und schlechtem Gewissen, nach Keuschheit und Katechismus: freudlos, klaustrophobisch und mit erhobenem Zeigefinger. Und dieser Eindruck ist auch nicht falsch; er ist nur unvollständig und ergänzungsbedürftig. Meine Geschichte zeichnet die fundamentalen moralischen Transformationen der Menschheit nach, von unseren frühesten, noch nicht menschlichen Vorfahren in Ostafrika bis zu den jüngsten Konflikten um Identität, Ungleichheit, Unterdrückung und die Deutungshoheit über die Gegenwart, die online in den Metropolen der modernen Welt ausgetragen werden. Sie erzählt davon, wie sich unsere Gesellschaft über die Zeitalter hinweg veränderte, davon, wie neue Institutionen, Technologien, Wissensbestände und Wirtschaftsformen sich parallel zu unseren Werten und Normen entwickelten, und davon, dass jede dieser Veränderungen mehr als eine Seite hat: Denn wer in einer Gemeinschaft lebt, grenzt andere aus; wer Regeln versteht, will diese überwachen; wer Vertrauen schenkt, macht sich abhängig; wer Wohlstand erzeugt, schafft Ungleichheit und Ausbeutung ; wer Frieden will, muss manchmal kämpfen.

Jeder Wandel hat eine Dialektik, jede willkommene Entwicklung hat eine harte, dunkle, kalte Seite, jeder Fortschritt hat einen Preis. Unsere frühe Evolution machte uns kooperativ, aber auch feindselig gegenüber allen, die nicht zu unserer Gruppe gehörten – wer „wir“ sagt, sagt bald auch „die“; die Entwicklung des Strafens domestizierte uns, machte uns freundlich und verträglich, stattete uns aber auch mit mächtigen punitiven, also strafenden Instinkten aus, mit denen wir die Einhaltung unserer Regeln überwachten; unsere Kultur gab uns neues Wissen und neue Fähigkeiten, die wir von anderen erlernten – und machte uns dadurch von diesen anderen abhängig; die Entstehung von Ungleichheit und Herrschaft brachte nie da gewesenen Reichtum und ein neues Ausmaß der Hierarchie und Unterdrückung; die Moderne setzte das Individuum frei, das die Natur mit Wissenschaft und Technologie unter seine Kontrolle brachte; dabei entzauberten wir unsere Welt, in der wir jetzt heimatlos sind, und schufen die Bedingungen für Kolonialismus und Sklaverei ; das 20. Jahrhundert wollte mithilfe globaler Institutionen eine friedliche Gesellschaft schaffen, in der alle den gleichen moralischen Status genießen, brachte uns die atemberaubendsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte und manövrierte uns an den Rand des ökologischen Kollapses; seit kurzer Zeit versuchen wir jenes Erbe der Willkür und Diskriminierung, des Rassismus und Sexismus, der Homophobie und Exklusion endgültig abzustreifen ; es wird sich lohnen, aber irgendeinen Preis werden wir auch dafür zahlen. Unsere Moral ist ein Palimpsest: ein mehrfach beschriebenes, oft unleserliches Pergament, das schwer zu entziffern ist. Aber was ist Moral? Wie definiert man sie? Am besten: gar nicht, denn „definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“.1 Unsere Moral hat aber eine Geschichte, und die ist zu vielschichtig und unhandlich für die sterilen Formeln, die wir uns im Lehnstuhl ausdenken. Dass sich nur schlecht definieren lässt, was Moral ist, heißt aber nicht, dass sich nicht klar sagen ließe, was sie ist. Es lässt sich nur nicht kurz sagen.

Eine Geschichte der Moral ist keine Geschichte der Moralphilosophie. Wir denken schon seit Langem über unsere Werte nach, aber erst seit kurzer Zeit schreiben wir unsere Gedanken auch auf. Der Codex Hammurapi und der Dekalog, die Bergpredigt, Kants kategorischer Imperativ und Rawls’ Schleier des Nichtwissens spielen in meiner Geschichte eine Rolle, aber sie ist vergleichsweise gering. Es ist die Geschichte unserer Werte, Normen, Institutionen und Praktiken. Unsere Moral ist nicht in unserem Kopf, sondern in unseren Städten und Dämmen, Gesetzen und Gewohnheiten, in unseren Festen und Kriegen.

Die Geschichte, die ich erzählen werde, will einen Beitrag zum Verständnis der Gegenwart leisten. Moderne Gesellschaften stehe aktuell unter einem moralischen Druck, die Möglichkeit ihres eigenen Fortbestehens mit den unangenehmsten Wahrheiten ihrer Existenz zu vereinen. Wie können wir die Umbauten unserer moralischen Infrastruktur, die wir gerade erleben, so kartografieren, dass Licht über dem Ganzen aufgeht?

1 Nietzsche, F. ( 1999 [ 1887 ] ), 317


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